FSSQ ist neben unseren anderen Aktivitäten auch unterwegs, die Spuren der nichtjüdischen Opfer des NS-Staates zu rekonstruieren und sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang wird demnächst eine eigene Homepage entstehen.
Derzeit arbeiten wir daran, dass Schicksal von drei Opfergruppe aufzuarbeiten: der Politischen, der Sinti und Roma sowie der Opfer des Euthanasieprogramms.
Die Suche nach den sogenannten „Politischen“ ist recht weit vorangeschritten. Die Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter gehörten zu den Ersten, die unter die Räder der SS/SA-Maschinerie gerieten und im Zuge der Reichstagsbrandverordnung in „Schutzhaft“ kamen. Auch im Kreis Fulda. Das zuständige Konzentrationslager war Breitenau bei Kassel.
In dieser Gruppe fallen besonders die Brüder Cohn auf, die beiden in Fulda geboren sind und 1927 mit ihrer Familie nach Oberkaufungen bei Kassel umsiedelten. Die beiden stammen aus einer jüdischen Familie, waren aber nicht religiös, und sie waren Kommunisten. Beide wurden schon am Anfang der Nazizeit inhaftiert, wegen „Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens“ zu Gefängnis verurteilt und nach Verbüßung der Strafe bis 1945 in Schutzhaft genommen. Damit gehören sie zu den wenigen Menschen, die als Juden und Kommunisten die gesamte Nazizeit in verschiedenen KZ’s verbrachten und trotzdem überlebt haben.
Am 9. Mai 1933 hatten sich die Nazis aus Oberkaufungen neben anderen jugendlichen Kommunisten August Cohn als Opfer ausgewählt. Cohn war den Nazis besonders verhasst, weil er Jude war und gerade unter den Jungarbeitern von Oberkaufungen eine aktivistische Arbeit gegen Nazis und Militarismus geleistet hat. Aus dem Polizeigefängnis in Kassel wurde August Cohn widerrechtlich der SA ausgeliefert. „Ich wurde mit einem Privatwagen nach Oberkaufungen gebracht, in das Amtsgericht. Dort im Keller haben sie mich zuerst mal zwei oder drei Stunden geschlagen und versucht, mir Rizinus einzuflößen. Dann haben sie den Ochsen gebracht, vom Bauern, und da haben sie mich draufgesetzt und haben gedacht, die Bevölkerung wird ihnen zujubeln. Aber die Leute sind alle in ihre Wohnungen gegangen, keine Sympathie. Es war nur eine Minderheit von Oberkaufungen, einige Bauern und solche, die sozusagen zum Lumpenproletariat gehörten, die gewissermaßen für ein braunes Hemd und ein Essen in die SA eingetreten sind,“ erzählt August Cohn 1983 im Gespräch mit Wolfgang Prinz.
Howard Cohn schreibt über seinen Vater: „Eine Reihe von Faktoren trug dazu bei, dass mein Vater diese grausame Behandlung in Oberkaufungen und die anschließenden 12 Jahre, die er im Gefängnis und in den Lagern verbrachte, überleben konnte. Er war jung, gerade 22 Jahre alt zum Zeitpunkt seiner ersten Verhaftung, und stark, sowohl körperlich als auch geistig. Er hatte einen enormen inneren moralischen Kompass. Er wusste, dass er für eine gerechte Sache litt und war entschlossen, nicht nur zu überleben, sondern auch zurückzuschlagen, so gut er konnte. Außerdem war er verhaftet und mit anderen politischen Gefangenen, die engagierte Anti-Nazis waren, eingesperrt worden. Als er nach der Tortur in Oberkaufungen zurück in seine Zelle in Kassel geworfen wurde, war er bewusstlos. Seine Kameraden säuberten ihn und verbanden seine Wunden, so gut sie konnten. In den folgenden Wochen pflegten und versorgten sie ihn, so gut es ging, und er erholte sich schließlich.
Nach einem Scheinprozess wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die er zunächst im Lokalgefängnis in Kassel und später im Landesgefängnis in Hameln verbüßte. Nach Beendigung der Haft wurde er nicht entlassen, sondern in „Schutzhaft“ oder „Vorbeugehaft“ genommen und in das KZ-System eingewiesen, wo er bis zur Befreiung durch amerikanische Truppen im April 1945 blieb.“ (Howard Cohn: August Cohn – Anti-Fascist. His Life under Nazi Tyranny ans American Repression, April 2012)
In Buchenwald, wo er von 1938 bis 1945 inhaftiert war, gehörte August Cohn dem organisierten Lagerwiderstand an. Seine erste Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass möglichst viele die Nazityrannei überleben konnten. Aber man konnte auch bei der Arbeit in den umliegenden Rüstungsbetrieben elektronische Bauteile klauen, so dass der Widerstand ein kleines Radio bauen konnte. Auch Waffen, vom Messer bis zum Karabiner wurden „beschafft“. Damit konnte man natürlich nicht gegen die hochgerüstete SS antreten, aber kurz vor dem Auftauchen der Amerikaner konnten immerhin 125 SS-Leute festgesetzt und übergeben werden.
Am Abend des 5. April 1945 wurde in der Schreibstube des Lagers eine Liste mit 46 dort aufgeführten Antifaschisten abgegeben, die von der Gestapo in Weimar kam und auf einer Denunziation eines tschechischen Häftlings basierte. Die auf der Liste genannten und zur Exekution bestimmten Buchenwaldhäftlinge, darunter auch August Cohn, sollten sich am 6. April 1945 morgens am Lagertor einfinden. Bis auf einen französischen Häftling folgten die Genannten dieser Aufforderung nicht und tauchten im Lager unter. Alle Häftlinge, die auf dieser Liste aufgeführt waren, haben die Befreiung erlebt.
Ohne die Absichten der SS für die verbleibenden Häftlinge zu kennen, wollte der Widerstand sicherstellen, dass die Welt erfuhr, was in Buchenwald geschehen war. Zu diesem Zweck wurde beschlossen, dass Eugen Kogon, ein bekannter Psychologe, aus dem Lager geholt werden sollte. Man war der Meinung, dass er die Glaubwürdigkeit haben würde, der Welt von diesen unglaublichen Ereignissen zu erzählen, falls die SS sich entscheiden sollte, die verbleibenden Häftlinge zu vernichten. Aber wie sollte er rauskommen? Um dies zu erreichen, wandte sich der Widerstand an den SS-Arzt, der die Typhus-Baracke leitete. Es war klar, dass Deutschland nur noch wenige Wochen davon entfernt war, den Krieg zu verlieren, und der Arzt war bereit zu kooperieren, um sich selbst zu retten. Kogon wurde von meinem Vater in einen Medikamentenschrank genagelt. Der SS-Arzt saß auf der Kiste, als diese aus dem Lager transportiert wurde, und sie wurde sicher zum Haus des Arztes gebracht. Der SS-Mann ließ Kogon heraus und brachte ihn zum Bahnhof, um die amerikanischen Truppen bei ihrer Ankunft in der benachbarten Stadt Weimar zu treffen. Als Kogon sein Buch „Theorie und Praxis der Hölle“ veröffentlichte, erhielt mein Vater ein Exemplar mit der Aufschrift „in Erinnerung an die Zeit, als Sie mich in den Medikamentenschrank genagelt haben“. (Quelle: Howard Cohn, August Cohn – Anti-Fascist)
Dr. Neurath erinnert sich an seine Zeit in den Lagern Dachau und Buchenwald. Er emigrierte in die USA und wurde Professor an der City University von New York. 1952 schrieb er in einem Brief, den er verfasst hatte, um August Cohn zu unterstützen, amerikanischer Staatsbürger zu werden: „Es war eine der höchstens zwei Gelegenheiten während meines ganzen Aufenthalts im KZ, dass ich spürte, wie meine Augen feucht wurden. Plötzlich hatte ich das Gefühl: Jetzt ist August weg (Anm.: wegen der bevorstehenden Verlegung nach Buchenwald); jetzt sind wir versenkt. Es war so, dass am nächsten Tag der Rest von uns aufgereiht wurde und auch abmarschiert ist, und innerhalb von drei Tagen, nachdem ich den August zuletzt gesehen hatte, waren wir in Buchenwald und da waren sie wieder, und wieder hatte ich das Gefühl: na ja, da ist der August wieder; da kann man wohl etwas machen. Der Mann war ein lebendiges Symbol für Freundschaft, für Hilfsbereitschaft, und das alles im großen Maßstab: Er organisierte Freundschaft in dem Sinne, dass er große Gruppen inspirierte, zusammenzuhalten, sich gegenseitig zu helfen, sich besonders um die unter ihnen zu kümmern, die selbst dort, wo wir alle dachten, wir hätten die Tiefe des Leidens erreicht, mehr litten als andere.“
Auch Ernst Federn, ein bekannter Psychoanalytiker aus Österreich, der zusammen mit August Cohn sowohl in Dachau als auch in Buchenwald war, erinnert sich in einem Brief an Howard Cohn:
„Ich kenne Ihren Vater seit fast 50 Jahren und verdanke ihm in der Tat mein Überleben. Er spielt eine große Rolle in meiner Lebensgeschichte. Wenn er nicht so ein bescheidener Mensch gewesen wäre, hätte er eine ziemliche Karriere in der Politik gemacht. Trotzdem wird er als einer der wahren Helden in der Geschichte des Widerstandes gegen den Nazismus nicht vergessen werden.“ (Brief von Ernst Federn an Howard Cohn, 4. April 1986, als Antwort auf den Brief, den er ihm geschrieben hatte, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater verstorben war.)
Die Geschichte kennt August Cohn nicht wirklich, trotzdem war er einer der Helden des Widerstandes gegen die Nazi-Tyrannei. Von seinen Freunden und Mitgefangenen ist er nicht vergessen worden. Vielleicht sollte auch die Stadt Fulda seiner gedenken, indem sie z.B. eine Straße nach ihm benennt.
Nach seiner Befreiung kehrte August Cohn für kurze Zeit nach Kassel zurück, er heiratete und wirkte im Auftrag der Amerikaner daran mit, die Nazi-Schergen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Juli 1946 wanderte er in die USA aus. In einem Interview erinnert er sich an diese Zeit: „Ich bin ja hier, das nebenbei, in 1945 eingesetzt worden in den Spruchkammern in den Entnazifizierungsprozessen als so genannter Ankläger. Und nach dem ersten Prozess habe ich gesagt: Nein, das mache ich nicht mehr mit. Das hat mich angekotzt. Jedermann war unschuldig. Niemand hat etwas gewusst. Und die ganze politische Situation. Ich will nichts mehr davon wissen, ich wandere aus.“ (Ulla Merle: „Gemeinde Kaufungen an Universität Jerusalem. Spuren einer Spurensuche“)
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