
»Der Glaube beginnt da, wo das Denken aufhört.« (Kierkegaard)
Am 13. Juni 1782 wurde Anna Göldin in der Schweiz (Sennwald, Kanton St. Gallen) als Hexe mit dem Schwert hingerichtet.
Sie soll mehrfach Stecknadeln in die Milch der Tochter ihres Arbeitgebers gezaubert und Nägel gespuckt haben. Unter Folter gab sie zu, die Kräfte des Teufels zu nutzen. Sie wurde wegen Hexerei angeklagt und enthauptet. Schon damals wurden trotz Pressezensur Stimmen laut, die von »Justizmord« sprachen.
Ein Jahr vorher war Kants »Kritik der reinen Vernunft« erschienen, 1784 sein berühmter Essay »Beantwortung der Frage. Was ist Aufklärung?«. Das Ziel war, den Aberglauben aus der Welt zu schaffen.
Aber man kann sehen, dass Vernunft und Barbarei in Mitteleuropa zu diesem Zeitpunkt gleichermaßen vorhanden waren, ein Zusammenhang, der auch heute gültig ist.
»Sapere aude!« (»Wage zu denken«) war der Wahlspruch, den der Königsberger Philosoph dem Bürgertum auf dem Weg in die Freiheit mitgab, wissend, dass dieser Weg gefährlich sein würde. Die Aufklärung, das »Zeitalter des Lichts«, begann in Europa und Nordamerika und war von Anfang an rebellisch gegen Absolutismus und die feudalen Fesseln der Freiheit. In den großen Ländern Europas entstanden Enzyklopädien mit dem Ziel, das Wissen der Menschheit zu sammeln und für jeden verfügbar zu machen. Damit war klar: Wissen ist die Voraussetzung für den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (Kant).
Das Projekt Aufklärung wendete sich von Anfang gegen kirchliche und staatliche Autoritäten.

Friedrich Schiller deklamiert im Tiefurter Park. Unter den Zuhörern zweite Person ganz links (sitzend mit Blick zu Schiller) Herder, in der Bildmitte (sitzend mit Kappe) Wieland und rechts (stehend) Goethe (Ölgemälde von Theobald von Oer, 1860)
Und trotzdem kam die Barbarei nicht aus der Welt. In Weimar kann man dies an einem einzigen Ort beobachten. Zur Goethezeit war hier der Musenhof Europas. Die Herzogin Anna Amalia und der junge Herzog hatten die Granden der deutschen Literatur (Wieland, Goethe, Herder, Schiller …) nach Weimar geholt und die Herzogin hatte für die Bürger eine vorbildliche Bibliothek geschaffen. 150 Jahre später ist der Ort eine von Hitlers Lieblingsstädten und auf dem Ettersberg wurde ein paar Kilometer entfernt das Konzentrationslager Buchenwald errichtet (Post Weimar). Vom Musenhof zur Barbarei ist es nur ein Spaziergang.
Wenn man die französische Autobahn Richtung Süden, quasi der Sonne entgegen, fährt, dann kommt man in der Nähe von Langres an dem Monument »die Sonne von Langres« vorbei. Hier wurde Denis Diderot geboren, der die französische Enzyklopädie geschaffen hat. Von den 72000 Artikeln des Lexikons hat er 6000 selber geschrieben. Diese Enzyklopädie ist eine Zusammenfassung des gesamten Wissens, eine überblickende Anordnung des Wissens einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Raumes, welche Zusammenhänge darstellt. Im 21. Jahrhundert liefert das Internet eine Fortsetzung dieser Idee auf hohem technischen Niveau. Die Enzyklopädie 2.0 heißt Wikipedia. Sie ist der Ort, an dem das Wissen der Menschheit gesammelt und für jeden kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Die Fülle ist riesengroß, quasi ein Ozean, in dem man aber leicht ertrinken kann, wenn man sich mit der Nutzung nicht auskennt.
Und hier kommt man zum Problem, das sich heute, z.B. bei den sogenannten Hygienedemos, zeigt. Natürlich ist es enorm wichtig, die Grundrechte und den staatlichen Umgang mit diesen im Auge zu behalten. Das wird niemand mit Vernunft bestreiten, aber es gibt einflussreiche Kreise, die nicht unbedingt am Projekt Aufklärung beteiligt sind, die versuchen, die Bewegung zu kapern. AfD und Nazis wollen, zusammen mit Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern, auf diesen Zug zu springen. Vor ein paar Tagen sah man ein Video, wo AfD-Nazi Kalbitz ein Grundgesetz signierte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Und da ist er wieder, der alte Aberglaube und Antisemitismus in neuem Gewand. Im Mittelalter waren sich viele sicher, dass die Juden Ritualmorde an Kindern begingen und Brunnen vergifteten. Sie wurden in der Gesellschaft ausgegrenzt und in Gettos gezwängt, ab und zu gab es Pogrome, wie z.B. 1229 in Fulda, wo man den Hass auslebte. Ende des 19. Jahrhunderts und in der Nazizeit wurde der religiös begründete Antisemitismus scheinbar auf eine wissenschaftliche Stufe gehoben. Aus dem Christusmörder wurde der Untermensch und Kulturzerstörer. Das deutsche Volk sollte von »artfremdem Blut« befreit und die arische Rasse aufgenordet werden. So wurden die industrielle Vernichtung von 6 Millionen europäischen Juden und das Lebensbornprogramm der Nazis möglich.
Aber auch hier werden antisemitische Verschwörungstheorien zum Brandbeschleuniger. Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts fanden die »Protokolle der Weisen von Zion« in Europa und Nordamerika einen großen Widerhall. Sie wurden als Fälschung Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet und beschreiben einen angeblichen jüdischen Kongress, auf dem beraten worden sein soll, wie die Juden die Weltherrschaft übernehmen und alles Gold der Welt an sich bringen wollten. Ab 1934 wurden dann die »Protokolle der Weisen von Zion« in Deutschland zum Schulstoff. Schon früh war auch von einem Komplott der Zionisten mit den Illuminaten und Freimaurern die Rede. Auch heute noch werden die Protokolle in der russischen Rechten, aber auch bei Nazis und in der AfD (Wolfgang Gedeon, MdL) verbreitet.
Heute tummeln sich Impfgegner im Internet und auf den Hygienedemos, die verbreiten, Bill Gates wolle 7 Milliarden Menschen impfen und chippen, um die Weltbevölkerung auf 500 Millionen zu reduzieren, damit die Reichen die Welt für sich alleine haben. Das Geld dazu stamme von dem Juden Soros. Weiter würden 400000 Kinder unterirdisch gefangen gehalten und gefoltert, um ihnen Adrenochrom abzuzapfen, als Verjüngungstrank für die reiche Elite. Der alte (antisemitische) Aberglaube kommt im 21. Jahrhundert ins Monströse überhöht zurück und wird massiv, manchmal aggressiv vertreten. Das Internet (Facebook, YouTube, Telegram) wirkt hier wie ein Brandbeschleuniger, der die Irrlehren ins Gigantische verzerrt. Die Vernunft ist ausgeschaltet, denn solche abstrusen Behauptungen lassen sich nicht seriös belegen. Und doch gelingt es dem veganen Koch Attila Hiltmann, sich in Interviews auf Kant zu berufen. Er ruft seinen Anhängern zu, sie sollten denken, aber er meint, sie sollten googeln.
Das Projekt Aufklärung entpuppt sich als Sisyphusarbeit. Mühsam rollt der Philosoph den Stein den Berg hinauf, wissend dass er wieder herunterrollen wird und die Mühsal beginnt von Neuem. Aber solange er sich nicht in sein Schicksal ergibt, besteht die Hoffnung, die Zahl der Vernünftigen könnte zunehmen.